Interview | Altersgerechtes Bauen Post-Covid-19

Mit genügend physischem Abstand haben sich Matthias Wyssman und Bob Gysin den Fragen «Wenn Corona die Welt grundlegend verändern würde: wie müsste das am besten geschehen? Und wie sieht nachhaltiges und altersgerechtes Bauen Post-Covid-19 aus?» gestellt.

Ein Interview von Mathias Wyssmann.

Matthias Wyssmann: Die Corona-Epidemie trifft alte Menschen am schwersten. Bestehen die altersgerechten Wohnprojekte, die Du realisiert hast, gerade den Stresstest?

Bob Gysin: Ja, das finde ich. Zumindest, was die gewählte Stossrichtung angeht. Viel hängt von der Bauherrschaft ab, die nicht immer weit genug gehen kann.  Aber es hat sich gezeigt, dass unsere radikaleren Ansätze sich am besten bewähren.

MW: Dein Büro verficht altersgerechte Strukturen, die konsequent auf eine Durchmischung setzen. In der Corona-Krise wünscht sich wohl mancher, dass diese Durchmischung eben nicht stattfindet.

BG: Segregierung ist furchtbar, gerade auch jetzt. Die jetzige Krisenbewältigung lebt doch gerade von einer gelebten Solidarität zwischen den Generationen…

MW: …die heftig unter Beschuss kommen dürfte, wenn die wirtschaftlichen Folgen spürbar werden. Aber das Alter ist nicht vor allem ein medizinisches Phänomen, wie man gerade meinen könnten, oder?

BG: Genau. Es hat – neben einer rein menschlichen – eine wirtschaftliche, soziale und psychologische Dimension. Sicher wird man ganz genau hinschauen müssen, was in Alters- und Pflegzentren verbessert werden kann. Vor allem aber sollten wir, zumindest was das Bauen angeht, sehr viel weniger in Kategorien wie «Alterswohnen» denken.

MW: Was bedeutet das konkret?

BG: Eine Wohn- und Lebensstruktur heute ausschliesslich auf Senioren auszurichten macht immer weniger Sinn. Viel sinnvoller ist, es Wohnformen zu kombinieren, indem man alters- und familiengerechte Grundrisse und Strukturen mit WG-, Single- und DINK-Wohnungen unter einem Dach zusammenbringt, inklusive Dienstleistungen für den ganzen Lebenszyklus.

MW: So radikal ist dieser Ansatz aber nicht.

BG: Nicht mehr. Und vielerorts doch. Aber richtig: Ich würde noch einen schönen Schritt weitergehen: Verschiedene Wohnformen kombinieren reicht nicht. Wir wissen einfach nicht, was die Zukunft bringt, wie sich Altersstrukturen und Bedürfnisse verändern, wieviel Platz jemand braucht. Deshalb müssen wir so bauen, dass diese Wohnformen leicht in einander überführt werden können. Wir müssen statisch so bauen, dass Grundrisse leicht verändert werden können. Dass man aus zwei Wohnungen eine und aus einer zwei machen kann.

MW: Aus der Duplex-Familienwohnung werden plötzlich zwei kleinere Wohneinheiten.

BG: Und die gealterten Mieter können in einer der beiden wohnen bleiben. Und die untere vermieten sie an eine WG, die ihnen im Alltag unter die Arme greift. Und den Lift denken wir von Anfang an mit, dass er auf beiden Etagen hält.

MW: Spannend. Aber reden wir noch vom zweiten Thema: der Nachhaltigkeit.

BG: Aber das haben wir ja schon.

MW: Ach ja?

BG: Natürlich. Wir haben eigentlich von der potentiellen Lebensdauer eines Gebäudes gesprochen. Wenn wir Gebäude so denken, dass sie sich möglichst flexibel an viele Faktoren anpassen können, verlängert sich automatisch ihre Lebensdauer. Wenn sich ihre Lebensdauer verlängert, dann können wir bei den Materialien nachhaltiger denken.

MW: Liegt da Potential?

BG: Natürlich. Da liegt DAS Potential. Punkto Gebäudeenergiebilanz erreichen wir irgendwann bald die gläserne Decke. Aber die graue Energie, die in den Materialien steckt, ist meistens noch immer viel zu hoch. Da können wir mit besseren, wertigeren Materialien wie zum Beispiel Holz viel erreichen. Aber natürlich auch mit kluger Architektur und bestem Ingenieurwissen.

MW: Das passt aber nur, wenn man den Lifecycle eines Gebäudes langfristig denkt, oder?

BG: Das Problem ist, dass die wichtigsten privaten Investoren heute einen viel kürzeren Zeithorizont haben: vielleicht 40 Jahre. Investoren, die vor allem die Rendite ihrer Anlage im Sinn haben, planen nicht auf 80 Jahre hinaus.

MW: Und wer so langfristig denkt, kann es sich meistens gar nicht leisten, ebenso zu bauen.

BG: Die Finanzierungshürden sind für die kleinen Bauherrschaften gigantisch. Da müsste ein Wertewandel stattfinden. Das ist letztlich das Radikale an unserer Herangehensweise. Wenn man sie konsequent umsetzt, müsste man die Macht beim Bauen jenen zurückgeben, die möglichst nahe in Berührung mit der Nutzung sind.

MW: Kein «economic distancing» also?

BG: Alles andere als das.

yss.ch